Dies ist der erste Beitrag einer kleinen Serie, die neue Online-Erzählformen für den Lokaljournalismus vorstellt.
• Was ist Scrollytelling?
Der Begriff Scrollytelling ist eine Mischung aus den Wörtern Storytelling und Scrollen. Die multimediale Geschichte erschließt sich dem Nutzer, indem er den Bildschirm herunterscrollt. Oder: “Mousewheel + Stories = Scrollytelling“.
Spätestens seit Snowfall (New York Times, 2012) gilt diese Erzählform als eine Königsdisziplin im Online-Journalismus.
Die Rhein-Zeitung folgte mit Arabellion (2013), die Zeit mit Am Berg der Fahrrad-Verrückten und Das neue Leben der Stalin-Allee (beide 2013). Mittlerweile gibt es viele solcher multimedialen Geschichten im Netz, die im anglo-amerikanischen Sprachraum auch Longform genannt werden.
Dieses Jahr erhielten der Bayerische Rundfunk und der Südwestrundfunk für ihre Scrollytelling-Geschichte Zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Der Nahe Osten einen Grimme-Online-Award.
Diese Geschichten sind natürlich aufwändig produziert und sprengen den Personalaufwand und das Budget der meisten Lokalzeitungen.
• Scrollytelling im Lokaljournalismus
Dennoch lassen sich auch Lokalgeschichten mittlerweile recht einfach im Scrollytelling-Format erzählen – mit Hilfe einer iPad-App. Sie heißt Storehouse und kann kostenlos über Apples App-Store iTunes heruntergeladen werden.
UPDATE: 14.7.2017
Die App Storehouse ist mittlerweile nicht mehr verfügbar. Eine Alternative für iPhones ist ArticleApp.
Lokalredaktionen können mithilfe der App sehr verschiedene journalistische Geschichten umsetzen und dann in ihr Redaktionssystem einbetten. (Den Code dafür liefert die App gleich mit.) Scrollytelling eignet sich dabei gut für Porträts, aber auch für komplexere Hintergrundberichte: zum Beispiel über den umstrittenen Bau einer Müllverbrennungsanlage in der Nähe einer Kleinstadt. Daraus lässt sich gut eine Scrollytelling-Geschichte mit Fotos, Videos, Text und interaktivem Kartenmaterial basteln.
• Scrollytelling im Selbstversuch: Das Kurzporträt eines Schrebergärtners
Die folgende Geschichte, das Kurzporträt eines Schrebergärtners, ist ohne Vorbereitung entstanden, aus dem Moment heraus. Ich hatte etwa 30 Minuten Zeit vor Ort: zehn Minuten für das Interview und 20 Minuten für die Fotos und die Videos.
Die Postproduktion hat einen halben Tag gedauert, zwischen vier bis fünf Stunden. Dazu gehörten das Zusammenschneiden der Fotos und O-Töne zu den Audio-Slideshows und Videos sowie das eigentliche Erstellen der Geschichte mit der App am iPad.
Dies zeigt, dass sich die Produktion von Scrollytelling-Geschichten eher nicht für die tägliche Arbeit in einer Lokalredaktion rentiert – wohl aber für besondere Stücke.
Gut an der App Storehouse ist auch, dass die Geschichte jederzeit am iPad redigiert und erweitert und dann wieder ins redaktionseigene CMS eingebettet werden kann.
Hier also mein Kurzporträt im Scrollytelling-Format, meine Anmerkungen folgen danach. Und noch ein Hinweis: Um den Ton der Geschichte hören zu können, müssen Sie gleich zu Anfang auf das Lautsprechersymbol in der oberen rechten Ecke des Bildschirms klicken! Zur Geschichte gelangen Sie, indem Sie aufs Bild klicken:
Ein paar Anmerkungen:
• Da mir die Idee zur Geschichte spontan vor Ort gekommen ist, hatte ich zur Produktion nur mein Smartphone als Fotoapparat, Camcorder und Tonaufnahmegerät zur Verfügung. Es handelt sich hierbei also um Mobile Reporting oder Mobile Journalism im besten Sinne. Das Smartphone war ein Samsung Galaxy SII. Für die Bilder und Videos habe ich die Android-App A Better Camera benutzt, für Tonaufnahmen iRig Recorder Free.
• Gleichzeitig zeigen einige Fotos die Grenzen solcher Smartphone-Fotografie: Gerade Bilder, die Bewegung festgehalten haben, sind oft verwackelt. Andere sind gnadenlos überbelichtet. Mit einer Spiegelreflex-Kamera wäre das nicht passiert. Wahrscheinlich auch nicht mit dem iPhone, für das es bessere Kamera-Apps von Drittanbietern gibt – wie ProCamera und Camera+.
• Alternativen zur App Storehouse: (1) Die Firma Codewise Solutions hat für den WDR das Tool Pageflow entwickelt, “das speziell dafür ausgelegt ist, bildschirmfüllende Bilder oder Videos mit Textelementen zu einem Erzählfluss zu verschmelzen.” Kurz: das Scrollytelling im Redaktionsrahmen ermöglicht. (2) Mit dem Online-Tool Creatavist (Update: 14.7.2017: heißt jetzt ATAVIST) lassen sich Scrollytelling-Geschichten bequem am Computer im Browser zusammenstellen und dann fürs Web veröffentlichen. Beide Tools haben den Vorteil, dass Redakteure kein iPad für die Produktion ihrer Geschichten benötigen.
Update: 5. August 2014
• Der Journalist und Dozent Christian Jakubetz hat auch einen Text über Storehouse und Scrollytelling geschrieben. Dabei erwähnt er meine Geschichte “Im grünen Bereich”.
• Ein Beispiel für einen anderen journalistischen Einsatz von Storehouse: Der BILD-Reporter Claas Weinmann hat eine multimediale Reportage über das Minenunglück in der Türkei im Mai 2014 mit der App zusammengestellt. (Update: 14.7.2017. Die App existiert nicht mehr.)
Update: 28. August 2014
Der Newsletter der Akademie Berufliche Bildung der deutschen Zeitungsverlage (ABZV) bringt eine Meldung zum Thema Scrollytelling, in der auch mein Beitrag “Multimediale Erzählformen im Lokaljournalismus” erwähnt wird:
Der gesamte, sehr empfehlenswerte September-Newsletter der ABZV lässt sich hier herunterladen.